Der alltägliche feinfühlige Umgang macht den Unterschied: Bindung im Lockdown

Bindung

Zuhause mit (mehreren) Kindern stehen Eltern täglich vor manchmal großen Herausforderungen, besonders in dieser Zeit des Lockdowns. Die Bedürfnisse könnten manchmal nicht unterschiedlicher sein. An Ideen den Alltag zu gestalten mangelt es nicht. Die sozialen Medien sind voller Ideen und Anregungen für die Bespaßung zuhause. Homeschooling-Ideen hier, Online-Kindersport da, Basteln mit Alltagsmaterialien hier. „Dein Alltag ist ihre Kindheit“ heißt es. Mit Blick auf die Wäscheberge macht das nachdenklich.

In Schrei nach Geborgenheit schreibt Gundula Göbel: „Es geht im Umgang mit Kindern nicht um die großen Ereignisse im Alltag. Wichtig sind die grundlegenden Empfindungen und der alltägliche feinfühlige, achtungsvolle Umgang miteinander.“ Dieser Satz traf mich! Bindung entsteht im gemeinsamen Alltag, denn es braucht keine speziellen Spiele und Angebote. Ein geöffnetes Herz der Eltern, ein authentischer, ehrlicher zugewandter Kontakt zum Kind ist entscheidend.

Weg von der „Kinder-Animation“ hin zu einem feinfühligen, achtungsvollen Umgang. Wie das geht?

Kinder können in Alltagsarbeiten einbezogen werden und zwar jedes Kind auf ganz unterschiedliche Weise. Sie können Kartoffeln schälen. Ein Kleinkind kann wunderbar die Quarkspeise rühren. Oder du lädst dein Kind ein, gemeinsam die Socken zu sortieren. Kinder wollen mitmachen. Sie erleben so ihren eigenen Wert.

Es braucht keine großen Ereignisse. Es ist nur wichtig, die eigene Wut durch die eigene Arbeit, den Druck, die Überforderung nicht in den Alltag und das Spiel der Kinder zu geben. Diese Wut gehört uns, nicht den Kindern.

Nicola Schmidt, Gründerin und Geschäftsführerin der Artgerecht GmbH, wird nicht müde es zu wiederholen: Es braucht ein Dorf, ein Kind großzuziehen. Heutzutage gibt es dieses Dorf aber nicht mehr. Die Großeltern, die früher eng in die Kindererziehung eingebunden waren, sind weniger verfügbar, weil sie vielleicht selbst noch erwerbstätig sind oder weiter weg wohnen. Aktuell sind sie weniger verfügbar, weil die Kontaktbeschränkung so wichtig ist, sie vielleicht zur Risikogruppe zählen. Eltern sind gefordert mehr bewusste Selbstfürsorge zu gestalten. Und Kinder brauchen gerade in schwierigen Zeiten besonders Verlässlichkeit und Achtsamkeit der Erwachsenwelt.

Ich erlebe in meiner Arbeit als Trageberaterin derzeit häufig Eltern, die schon während der Schwangerschaft eine enorme Belastung erfahren durch die Corona-Pandemie. Neben der Tatsache, dass Geburtsvorbereitungskurse online stattfinden und der Austausch mit Gleichgesinnten dadurch erschwert ist, bangen manche darum, dass der Partner bei der Geburt dabei sein kann. Entbinden sie dann im Krankenhaus sind sie wegen strenger Besucherregelungen viel alleine und auf sich gestellt. Ihnen fehlt der emotionale Halt des Partners in diesen anstrengenden ersten Tagen mit dem Baby. Zuhause wartet dann manchmal ein Geschwisterkind, das nicht in den Kindergarten gehen darf. Wenn nun der Mann wieder arbeiten gehen muss, entsteht eine enorme Belastung für die Mutter. Das „wilde“ Kleinkind, welches sich auch erst in der neuen Rolle zurechtfinden muss, braucht große Zuwendung. Das Baby fordert lautstark den Körperkontakt der Mutter und die Mutter selbst, muss nach Schwangerschaft und Geburt erst wieder zu Kräften kommen.

Als ich kürzlich mit Gundula Göbel, Kinder- und Jugendlichen Psychotherapeutin, über Bindung gesprochen habe, fragte ich sie, welche Schwierigkeiten/Herausforderungen sie angesichts der Corona-Pandemie sieht.

Gundula Göbel sagt, es sei als lege man eine Lupe auf die Familien. Ich erlebe dabei ganz unterschiedliche Situationen. Manche Eltern staunen: „Ich lerne mein Kind neu kennen.“ Das ist eine Chance, vor allem für Familien, in denen vorher viel von außen getragen war. Es gäbe aber auch Menschen, die keine gute verlässliche Bindung verspüren. Keiner hat sich diese Krise ausgedacht. Und es ist eine Krise. Sie ist nicht sichtbar, nicht anfassbar, nicht greifbar. Sie wird anderweitig spürbar, im schlimmsten Fall, wenn Familienmitglieder erkranken.

Allseits herrscht eine große Angst, dass Kinder durch diese Krise traumatisiert werden, weil sie Schule und Kindergärten nicht besuchen dürfen. Ein Trauma entstehe aber nicht dadurch, so Gundula Göbel. "Es entsteht, wenn wir unsere Wut nach außen richten, auf Politiker und Lehrer (die sich diese Krise im Übrigen auch nicht ausgedacht haben). Ja, intensive Gefühle sind erlaubt. Es ist nur wichtig, dass Eltern Bewältigungsstrategien suchen. Es gilt zu handeln, statt zu schimpfen."

Für Gundula Göbel steht fest: Kinder wollen willkommen sein und zwar in Schule und Kindergarten, genauso wie zuhause. Es sei fatal, wenn Eltern ihnen signalisieren (auch verbal), dass es ja so schrecklich ist, dass sie nicht in den Kindergarten gehen dürfen, weil sie kein Anrecht auf Notbetreuung haben. Dadurch erfahren sie eine doppelte Ablehnung.

Was sie sich wünscht, als „Ergebnis“ der Pandemie, vielleicht als Lehre ist, weniger auf die Leistung zu schauen, sondern den Fokus auf die Grundversorgung zu legen.

Gundula Göbel: „Psychotherapiepraxen waren vor der Pandemie genauso voll. Corona ist nur die Lupe, die uns auffordert genauer hinzusehen: Wo hapert es? Was brauchen Kinder und Familien wirklich?"

 

Du möchtest mehr zum Thema erfahren? Lese hier unseren Beitrag über "Unsere emotionale Nabelschnur: Bindung".

Wusstest du das der "Trost" am Anfang der Bindung steht, sozusagen die Grundlage des Entstehens einer verlässlichen Bindung ist? Schau doch mal in mein Interview mit Gundula Göbel rein.

Über den Autor

Anna Schmidt

Anna ist Mutter von drei Kindern und leidenschaftliche Trageberaterin. Aus Erfahrung weiß sie, wie entlastend das Tragen für das Familienleben und ihren Körper ist. Ihre Vision: Jedes Kind und jede Familie soll von den Vorteilen des Tragens profitieren!